Archiv der Kategorie: Storys

[Feature] Jutta Weber-Bock über die Recherche von historischen Texten

Versteckte Flaschenpost
Von Jutta Weber-Bock

Über die Recherche von historischen Texten

Jutta Weber-Bock

„Nur ein kleiner Teil von dem, was einem Roman an Recherchen vorausgeht und was der Autor dabei lernt, zeigt sich am Ende im Text. Und all das Verborgene ist nicht weniger aufregend und kostbar als das Sichtbare“, hat Pascal Mercier 2020 über seinen Roman „Das Gewicht der Worte“ gesagt.

Von so mancher Kostbarkeit konnte ich mich nicht trennen und habe sie als Flaschenpost im Text versteckt. Bei den Recherchen hat sich mir eine Tür nach der anderen geöffnet. Es war verblüffend, wie Orte eine Handlung in Gang gesetzt haben, die ich mir vorher nicht hätte ausdenken können. Plätze wurden so zu Schauplätzen.

Ganz besonders in Erinnerung geblieben ist mir bei meinem ersten historischen Roman „Das Mündel des Hofmedicus“ der Pfarrgarten in Metzingen. In einer Ecke stand eine Schubkarre. Im meiner Phantasie sah ich Kinder miteinander spielen und hatte sofort das berühmte Gedicht vom roten Schubkarren von William Carlos Williams im Kopf. Der rote Schubkarren ist in der Handlung gelandet und tatsächlich haben mich einige Leser auf die versteckte Flaschenpost angesprochen.

Das Mündel des Hofmedicus

Auf das Schicksal meiner Hauptfigur, der Giftmörderin Christiane Ruthardt, bin ich zufällig bei Recherchen im Landesarchiv Baden-Württemberg gestoßen. Eckpunkte ihres Lebens sind durch die Gerichtsakte überliefert, aber viele Fragen sind offen geblieben und haben mich gereizt weiterzudenken.

Søren Kierkegaard hat gesagt, dass man das Leben nur rückwärts verstehen kann. Diesen Weg zurück bin ich mit meiner Romanfigur gegangen. Ich bin ihr gefolgt in ihre Kindheit, um zu zeigen, was sie prägt und formt. Ich wollte aber nicht ihr Leben nacherzählen, sondern habe mich gefragt, wie es ihr in den einzelnen Lebensphasen, vor allem in der frühen Kindheit, ergangen ist. Welchen Einfluss hatte die frühkindliche Erziehung auf ihr späteres Leben?

Bei Recherchen stieß ich auf das Stichwort »Fatschen« und dachte an ein historisches Phänomen. Die meisten von uns kennen die Abbildungen vom Jesuskind aus Gemälden oder in Skupturen, das wie ein Engerling eng eingeschnürt, das heißt gewickelt ist. Leider musste ich feststellen, dass das Fatschen hoch aktuell ist. Der Kinder- und Jugendpsychologe Ralph Frenken hat die Auswirkungen des strammen Wickelns untersucht, das heute unter dem englischsprachigen Ausdruck »Pucken« bekannt ist. Ich konnte mich also nicht bequem zurücklehnen, sondern musste Stellung beziehen. So wurde die Erziehung zum zentralen Thema im „Mündel des Hofmedicus“.

Erstaunt hat mich bei den Recherchen, wie mobil die Menschen schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor Einführung der Eisenbahn waren. Für Stuttgart habe ich in der Landesbibliothek einen detaillierten Fahrplan gefunden für die ankommenden und abgehenden Postkurse. Detailliertere Recherchen aber erzählten mir – damals wie heute – von überfüllten Kutschen und überfülltem Nahverkehr.

In der Kutsche durch Europa

Bei der Handlung des „Mündels“ habe ich mich inspirieren lassen von Geschichten aus dem Sammelband „In der Kutsche durch Europa“. Zwar haben Reisende sich auch damals beklagt – überfüllte Kutschen und Verspätungen waren an der Tagesordnung – aber manches scheint besser organisiert gewesen zu sein als heutzutage. Magistralen, also Hauptverkehrswege, durch Stuttgart gab es einige, zum Beispiel nach Salzburg, Basel, Berlin oder Prag. Und auch die Verbindung Stuttgart–Paris ist keine neue Erfindung, sondern durch die Carlsruher Diligence (Expresspostkutsche) en detail historisch verbürgt. Ich konnte mich nicht zurückhalten und habe bei der Schilderung der Kutschfahrten eine weitere Flaschenpost versteckt….

[FEATURE] Andreas Eschbach – Die Haarteppichknüpfer

Die Erzählung wurde 1984 von der Stuttgarter Literaturzeitschrift „Flugasche“ (Verlag Reiner Brower) erbeten und in deren Themenheft „KINDER“ abgedruckt. Der Autor hat sie mehrfach auf Lesungen mit großem Anklang vorgetragen. Sie wurde mit dem Literaturpreis des Science-Fiction-Clubs Deutschland ausgezeichnet sowie mit dem belgischen Prix Bob Morane und dem französischen Grand Prix de l’Imaginaire. Mit Hilfe eines Stipendiums (s. u.) konnte Eschbach eine Reihe weiterer Erzählungen über das Universum der Haarteppichknüpfer schreiben und zu einem Episodenroman verknüpfen, den er 1995 zunächst im Münchener Schneekluth-Verlag als Hardcover veröffentlichte. Sein nächster Roman war „Das Jesus-Video“. Der Rest ist Geschichte.

Andreas Eschbach – Die Haarteppichknüpfer

Knoten um Knoten, tagein, tagaus, ein Leben lang, immer die gleichen Handbewegungen, immer die gleichen Knoten in das feine Haar schlingend, so fein und winzig, dass die Finger zittrig wurden mit der Zeit und die Augen schwach von der Anstrengung des Sehens – und die Fortschritte waren kaum zu merken; wenn er gut vorankam, entstand in einem Tag ein neues Stück seines Teppichs, das vielleicht so groß war wie sein Fingernagel. So hockte er an dem knarrenden Knüpfrahmen, an dem schon sein Vater gesessen war und vor ihm dessen Vater, in der gleichen gebeugten Haltung, die alte, halbblinde Vergrößerungslinse vor den Augen, die Arme auf das abgewetzte Brustbrett gestützt und nur mit den Fingerspitzen die Knotennadel führend.
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Leipziger Buchmesse 2016 – Ich war dabei

Leipziger Messemännchen begrüßt seine Besucher
Leipziger Messemännchen begrüßt seine Besucher

Vom 17. bis zum 20. März hieß es in der ganzen sächsischen Stadt wieder „Leipzig liest“. Klar, dass eine Leseratte wie ich es bin, dabei nicht fehlen durfte. Und so stürzte ich mich an zwei Tagen, dem 17. und 18. März, ins Messegetümmel. Neben der Buchmesse selbst und vielen Begleitveranstaltungen, wie zum Beispiel der 22. Leipziger Antiquariatsmesse und des 6. Bibliothekskongresses, war mein persönliches Highlight die zum dritten Mal stattfindende Manga-Comic-Con (MCC) in Halle 1. Dort verbrachte ich meine verfügbare Zeit zu 2/3. Es gab so viel zu entdecken und zu bestaunen, denn die MCC wird von den Cosplayern liebend gerne genutzt um sich mal wieder so richtig in Schale zu werfen und seiner Lieblingsmanga/-anime/-comic-Figur Leben einzuhauchen.

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[FEATURE] Norbert Sternmut – Norm@n

NORM@N (Romanauszug)

1. Kapitel

Von vorne. Hinten. Danke. Blutspritzer und Semantik. Neurologie und Psychologie. Sprache und Verwaltung. Philosophie. Norman und seine Mutter, die in einem Stuhl sitzt, leblos, abgemagert, sinngemäß, zweifelhaft, staubig. Der beste Freund eines Mannes ist seine Mutter. Wenn der weiße Flieder wieder blüht. Der weise Prophet über die weite Steppe wandert, leicht schwankend, wissend jeweils, ich weiß nicht, kennen Sie Uschi? Nein, es ist nicht so, dass ich hier in dieser Gegend mein Glück gefunden hätte, dass ich hier Hühner züchtete, ein Haus baute, Kinder zeugte. Nicht so, dass ich hier eine Fahne in den Wind hielt, mich mit den Regeln anfreunden konnte, heimisch geworden wäre. Nicht vor diesem Himmel, diesen himmlischen Wolken, vor dieser Sonne, diesen sonnigen Aussichten, wie gesagt wird, teilweise: Sonnige Aussichten. Meine Frau Regina sagt, ich sollte wieder schreiben. Ich kann ihnen nicht alles erklären, was sich täglich ergibt, müsste wieder schreiben, kann nur ein Muster abgeben, gehe fremd, sinngemäß, nein, so will ich es nicht sagen, werde wieder schreiben. Regina sagt, sie würde noch verrückt, aber sie weiß nicht, was geschieht. Weil keiner weiß, was geschieht! In den Wüsten, Steppen, Fußgängerzonen. Die Stimmen? Ich würde Stimmen hören, hörte ich sagen, aber es ist nicht alles zu glauben, was gesagt wird, was ich höre, teilweise: Sonnige Aussichten!
Es ist nicht so, dass ich hier in dieser Gegend fündig geworden wäre, eine Firma gründete, Weizen erntete, Gerste, Hafer. Nein.
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